Neuwahl SPD Bundesvorsitz, Stichwahl: Fragen der ASJ NRW an die verbliebenen Kandidatinnen und Kandidaten + Antworten

Der Landesvorstand der ASJ NRW hat im Rahmen seiner jüngsten Klausurtagung einen Katalog von 5 rechtspolitischen Fragen erarbeitet, die wir an die Kandidatinnen und Kandidaten für den SPD Parteivorsitz übersandt haben.

Nach dem Ergebnis der Mitgliederbefragung sind nun noch die beiden Kandidatenpaare Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sowie Klara Geywitz und Olaf Scholz „im Rennen“.

Nachfolgend sind die Fragen nebst Antworten aufgeführt:

 

1.) ASJ NRW: Welche Position habt Ihr/hast Du zu den elf nach § 10 OrgStatut gebildeten Arbeitsgemeinschaften, ihren Mitwirkungsmöglichkeiten (z.B. Antragsrechte, Rederecht und beratende Mitwirkung in Vorständen), ihrer Finanzierung und ihrem Fortbestand?

 

a.) Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans

„Engagement wird themenbezogener und Menschen mobiler. Wenn es Arbeitsgemeinschaften nicht geben würde, müsste man sie daher erfinden. Ihr Modell der Einbindung von Engagement und Expertise ist zukunftsweisend, wie themenbezogene Formate insgesamt. Insbesondere für Menschen, die häufig umziehen, bieten sie die Möglichkeit, sich dauerhaft zu ihren Fachthemen zu engagieren. Damit sich Arbeitsgemeinschaften wirksam an der Willensbildung in der SPD beteiligen können, halten wir Antrags- und Rederecht auf den Parteitagen, einen klaren Rechtsstatus und eine beratende Mitwirkung in den Vorständen der jeweiligen Ebenen für unerlässlich. Arbeitsgemeinschaften sind ein Reservoir kompetenter Fachleute, deren Wissen wir für die Parteiarbeit besser nutzen sollten als bisher. Bei der Finanzierung müssen wir ehrlich sein: Die SPD hat wegen der jüngsten Wahlergebnisse immer weniger Geld zur Verfügung. Deshalb müssen wir uns solidarisch zusammensetzen und über eine gute und gerechte Verteilung der Mittel reden. Auch davon unabhängig bieten die Chancen der Digitalisierung überall in der Partei die Möglichkeit sich besser zu vernetzen und Synergieeffekte zu nutzen. Klar ist für uns, dass wir die Arbeitsgemeinschaften handlungsfähig halten wollen.“

 

b.) Klara Geywitz und Olaf Scholz

„In der SPD und ihren Gremien müssen wieder die relevanten Diskussionen stattfinden. Die Debatten, bei denen es ganz zentral um die Zukunft unserer Gesellschaft geht. Wir haben viele großartige Mitglieder mit unterschiedlichen Lebenswegen, Interessen und Erfahrungen, die sich einbringen wollen. Deshalb brauchen wir neben den Ortsvereinen auch andere Orte, an denen das möglich ist. Dazu gehören die Arbeitsgemeinschaften in besonderer Weise, deshalb haben wir sie für Nicht-Mitglieder geöffnet. Klara hat in der Vergangenheit besonders intensiv mit der ASF zusammengearbeitet. Ohne die Unterstützung der ASF hätte es das Paritätsgesetz in Brandenburg nie gegeben. Die Arbeitsgemeinschaften haben Antrags- und Rederecht auf Parteitagen – so soll es bleiben. Wir brauchen unsere Arbeitsgemeinschaften also auch in Zukunft dringend und müssen sie natürlich auch finanzieren.“

 

2.) ASJ NRW: In vielen Bundesländern gab es Änderungen der Polizeigesetze mit Ausweitung der Gewahrsamshaft und auf Bundesebene die Änderungen des Aufenthaltsgesetzes mit Ausweitung der Abschiebungshaft (§ 62 Aufenthaltsgesetz). Dies berührt das grundlegende Verhältnis von Freiheitsrechten und staatlichen Eingriffen, nach denen der Staat bisher psychisch gesunde Menschen nur dann über einen längeren Zeitraum inhaftieren konnte, sofern sie eine Straftat begangen hatten. Wie bewertet Ihr/bewertest Du die damit zum Ausdruck kommende rechtspolitische Tendenz, die Freiheit der Person zunehmend anderen staatlichen Zwecken unterzuordnen?

 

a.) Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans

„Ein Eingriff in die Freiheit der Person ist der schwerste reguläre Grundrechtseingriff, der in unserem freiheitlichen Staat möglich ist. Ein solcher Eingriff kann gerechtfertigt werden, wenn Menschen Straftaten begangen haben. Demgegenüber halten wir die in der Frage beschriebene Ausweitung der Gewahrsamshaft für falsch. Sie bedeutet, dass Menschen nicht mehr wegen ihrer Taten, sondern alleine wegen eines Verdachts für einen längeren Zeitraum eingesperrt werden können. Die Spitze des Eisberges ist Bayern, wo die Inhaftierung theoretisch unendlich lange erfolgen kann. Eine solche Regelung ist mit einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht vereinbar. Der Entzug der Freiheit der Person ist kein Mittel zu jedem beliebigem Zweck. Menschen, die nie eine Straftat begangen haben, über Monate einzusperren, um irgendwann einmal eine Abschiebung durchzusetzen, widerspricht eklatant dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Unter anderem wegen der weiteren Ausweitung der Abschiebehaft hat Saskia Esken im Deutschen Bundestag gegen das Gesetz mit dem zynischen Namen „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ gestimmt. Wir glauben, dass die gesetzlichen Grundlagen zur Bekämpfung von Terroristen und Kriminalität im Wesentlichen ausreichen. Besser als immer neue Gesetzesverschärfungen ist eine gute Ausstattung und Vernetzung der Sicherheitsbehörden. Wir dürfen nicht zulassen, dass grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien aus Angst vor Terroristen aufgeben werden. Dann hätten die Terroristen ihr Ziel erreicht.“

 

b.) Klara Geywitz und Olaf Scholz

„Ihr wisst: Jede freiheitsentziehende Maßnahme steht in Deutschland unter Richtervorbehalt. Das wird durch das Grundgesetz garantiert. Die SPD steht seit ihrem Bestehen für eine Rechtspolitik, die die Freiheit der Person gerade nicht anderen staatlichen Zwecken unterordnet – ganz gleich, in welchem Rechtsbereich. Die Ausdehnung der Gewahrsamshaft wie sie das bayrische Polizeirecht vorsieht, halten wir für überzogen und rechtlich problematisch. Im Rahmen der Asyl- und Migrationsgesetzgebung im Juni dieses Jahres, die Ihr ansprecht, haben Bundesregierung und SPD-Fraktion eine Lösung gefunden, die den Wunsch auch der sozialdemokratisch regierten Länder nach einer praktikablen Ausgestaltung von Abschiebehaft und Abschiebegewahrsam entlang unserer Überzeugungen in Hinblick auf den Rechtsstaat ausgestaltet.“

 

 

3.) ASJ NRW: Aus dem Prinzip des sozialen Rechtsstaats folgt, dass alle Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Geldbeutel und Bildungsstand tatsächlich zu ihrem Recht kommen sollen. Wie steht Ihr/stehst Du zu der Einführung eines flächendeckenden, kostenfreien und niedrigschwelligen Rechtsberatungsangebotes sowie einem Ausbau von Beratungsstellen für Schuldnerinnen und Schuldnern und allgemeiner Sozialberatung?

 

a.) Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans

„Wir halten diese Forderung für richtig und wichtig. Wir müssen das Versprechen des sozialen Rechtsstaats auch tatsächlich einlösen. Allein die formale Gleichheit vor dem Gesetz reicht dafür nicht aus. Menschen müssen auch tatsächlich in die Lage versetzt werden, zu ihrem Recht zu kommen. Viele Menschen sind aber angesichts der Komplexität unseres Rechtssystems nicht mehr in der Lage, sich zum Beispiel als Mieter*in gegen die ungerechte Behandlung durch einen Wohnungskonzern zu wehren. Sie wissen bei vielen Problemen nicht, welche Schritte sie einleiten und an wen sie sich wenden sollen. Deswegen ist es sinnvoll, ein niedrigschwelliges Beratungsangebot zu schaffen, das Menschen als Lotse im Bürokratie-Dschungel dienen kann. Auch flächendeckende Beratungsangebote wie Schuldnerberatung und allgemeine Sozialberatung sind ein wichtiges Mittel, Menschen in Notlagen zur Seite zu stehen und Teilhabe zu ermöglichen. Alle Beratungsangebote eint ihr präventiver Ansatz. Wir müssen frühzeitig Hilfen anbieten, bevor die Probleme unüberwindbar werden. Und auch wenn das nicht die wichtigste Motivation ist: Ein solcher Ansatz kann sogar dazu führen, dass der Staat per Saldo weniger Geld ausgeben muss als vorher.“

 

b.) Klara Geywitz und Olaf Scholz

„Für diejenigen, die eine Rechtsberatung nicht bezahlen können, gibt es mit der Prozesskostenhilfe, den in einigen Ländern etablierten Öffentlichen Rechtsauskunfts- und Vergleichsstellen, speziellen Rechtsberatungsstellen wie z.B. den Mietervereinen, den Verbraucherzentralen oder den Schuldnerberatungsstellen kostengünstige spezifische Angebote. Allerdings müssen diese Angebote ausgeweitet werden. Die Wartezeiten sind oft zu lang.“

 

 

4.) ASJ NRW: Die desaströsen Arbeitsbedingungen und die Ausbeutung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den Entwicklungsländern sowie die umweltzerstörende Produktion dort sind für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten unerträglich. Wie stehst Du/steht Ihr zu einer für Unternehmen rechtlich verbindlichen Verpflichtung, international die Menschenrechte zu beachten und der Möglichkeit, bei deren Verletzungen Schadensersatz/Schmerzensgeld geltend zu machen, unabhängig von der vertraglichen Gestaltung der Lieferketten (z.B. über ein nationales Gesetz und/oder einen internationalen Vertrag, UN-Treaty)?

 

a.) Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans

„Auch dieser Forderung können wir uns unumwunden anschließen. Während in vielen Handelsverträgen knallharte Klagerechte für Investoren stehen, sind die entsprechenden Klauseln zu Menschenrechten relativ unverbindlich und vor allem weder sanktionsbewehrt noch durch eine Klage durchsetzbar. Ein internationaler Vertrag wäre hier natürlich das erste Mittel der Wahl. Europa und Deutschland müssen das aktiv befördern, statt auf der Bremse zu stehen. Überhaupt darf sich die Handelspolitik der Europäischen Union nicht nur an Handelsfragen im engeren Sinne orientieren. Europa muss sein wirtschaftliches Gewicht in die Waagschale werfen und den Zugang zu unseren Märken an die Einhaltung von Menschenrechten, Arbeitnehmer*innenrechten und Umweltstandards koppeln. So wichtig globale Vereinbarungen und europäische Initiativen sind, so falsch wäre es, wenn Deutschland alleine darauf warten und die Hände in den Schoß legen würde. Deswegen unterstützen wir ausdrücklich die Forderung, dass Deutschland als gutes Beispiel voran geht und dafür sorgt, dass Konzerne in Deutschland leichter zivilrechtlich für Menschenrechtsverletzungen im Ausland belangt werden können. Es darf keine Verantwortungslosigkeit entlang der Lieferketten geben. Konzerne müssen – zumutbare – Vorkehrungen treffen, dass sich auch ihre Lieferanten an Menschenrechte halten. Eine Globalisierung auf dem Rücken von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Entwicklungsländern darf mit der SPD nicht zu machen sein.“

 

b.) Klara Geywitz und Olaf Scholz

„Die Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen gilt universell. Auch Unternehmen müssen sie beachten. Aus diesem Grund ist uns der Nationale Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ wichtig. Er setzt die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte um, die 2011 im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen beschlossen wurden. Die SPD hat den Aktionsplan in der vergangenen Legislaturperiode durchgesetzt, im Dezember 2016 wurde er von der Bundesregierung beschlossen. Zentral ist dabei die Darstellung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten von Unternehmen auch für ihre Liefer- und Wertschöpfungsketten. Der Aktionsplan wird jedes Jahr evaluiert, zurzeit zum ersten Mal. Wir halten aber für richtig, nicht stehenzubleiben, sondern auch mit gesetzlichen Maßnahmen faire Lieferketten durchzusetzen. Dass der CSU Entwicklungshilfeminister das auch thematisiert, müssen wir nutzen. In diesem Zusammenhang ist uns ein weiteres Thema wichtig: Bei den Handelsverträgen der Europäischen Union müssen die Nachhaltigkeits- und Umweltkapitel mit wirksamen Sanktionsmechanismen versehen werden. Olaf setzt sich daher gemeinsam mit Hubertus Heil, Heiko Maas, Christine Lambrecht und Svenja Schulze innerhalb der Bundesregierung dafür ein, dass dies in der EU geschieht.“

 

 

5.) ASJ NRW: Wie beabsichtigt Ihr/beabsichtigst Du den Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und der Verhinderung von Straftaten (z.B. Beleidigung, üble Nachrede, Volksverhetzung, Bedrohung) effektiv zu verhindern, ohne dass Zensur stattfindet?

 

a.) Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans

„Die Verpflichtung des TMG zu Notice&Takedown hat sich bewährt: Seiteninhaber sind demnach verpflichtet, nach Kenntnis potentiell strafbarer Inhalte deren Weiterverbreitung zu verhindern. Die Alternative wären Filter, und das lehnen wir aus guten Gründen ab. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz hat diese Pflicht, der große Medienhäuser und kleine Blogbetreiber schon lange nachkommen, auch für Plattformen durchgesetzt. Sie müssen nun geeignete Strukturen für den Umgang mit gemeldeten Inhalten vorhalten, um dieser Verpflichtung nachzukommen, und müssen über ihre Arbeit berichten. Alleine die freiwillige Selbstverpflichtung, das TMG zu befolgen, hatte keine ausreichenden Ergebnisse gebracht.  Hohe Bußgelder drohen nicht etwa, wenn ein offenkundig rechtswidriger Inhalt nicht innerhalb von 24 Stunden gelöscht wird, sondern nur wenn die genannten Strukturen sich als ungeeignet darstellen. Die Befürchtung von „Overblocking“ hat sich nach unserem Eindruck nicht eingestellt. Die bisher geringen Meldungen wegen mangelhafter Löschungen sprechen für die Wirksamkeit des Gesetzes. Die Berichte und die Praxis der Plattformen müssen wir dennoch weiter beobachten. Sollten die Evaluation des NetzDG ergeben, dass zu viel gelöscht wird, sei es aus „vorauseilendem Gehorsam“ gegenüber dem NetzDG oder im Rahmen des Hausrechts, dann müssen wir reagieren. Die Rechtsprechung zur Abwägung der Meinungsfreiheit gegenüber dem Hausrecht der Plattformen weist uns den Weg: Die Plattformen und andere Seitenbetreiber müssen Beschwerdewege einrichten, um bei unberechtigten und überzogenen Löschungen und Account-Sperren eine Überprüfung zu verlangen, ohne dass gleich der Rechtsweg begangen werden muss. Bisher ist noch nicht erkennbar, dass Plattformen durch ihre Algorithmen oder ihre Löschpraxis eine eigene politische Agenda verfolgen. Sollte das irgendwann der Fall sein, muss der Gesetzgeber (am besten auf europäischer Ebene) einschreiten und für Neutralität gegenüber den verschiedenen Meinungen sorgen.“

 

b.) Klara Geywitz und Olaf Scholz

„Für uns ist klar: das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein. Hass ist keine Meinung. Beleidigungen wie gegen Renate Künast sind unerträglich. Das Grundgesetz gewährleistet die Meinungsfreiheit und verbietet Zensur. Das soll und wird so bleiben. Die Abgrenzung zu Straftaten erfolgt abstrakt durch die jeweiligen Straftatbestände und im Einzelfall durch die Rechtsprechung. Zulässige Meinungsäußerungen zu Straftatbeständen wie beispielsweise der Beleidigung oder der üblen Nachrede abzuwägen, soll auch künftig Aufgabe der Gerichte bleiben.“